DIE NACHTIGALL – By LitterART, 11/01/2010 ©
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KEIN SCHLÄCHTER MENSCH
(DIE NACHTIGALL)
Einem Herrn war ein Vogel zugeflogen. Einen Vogel wie diesen hatte er noch nie gesehen. Das Tier war recht groß. Sein Rücken war braun. Sein langer Schwanz war rötlich. So sahen Drosseln aus. Das Fenster stand offen. Der Vogel hatte sich auf die Stuhllehne gesetzt. Er flog nicht fort.
Am Abend bekam der Herr Besuch. Der Vogel wurde als Nachtigall identifiziert. Der Besuch ging wieder. Es wurde Nacht. Doch die Nachtigall sang nicht. Diese Drosselart ist sehr scheu. Der Herr stellte seinem gefiederten Gast ein Schälchen Wasser auf den Tisch. Lange sah die Nachtigall den Herrn an. Dann hopste sie herbei. Sie trank. Der Angesehene beobachtete sie genau. Sie war verletzlich. Die Nachtigall hatte eine gepiercte Zunge. In der Zunge trug sie einen goldenen Ring.
„Singe!“ sagte der Herr zur Nachtigall. „Singe!“ Der Vogel schwieg. Es wurde finster. Der Herr schaltete kein Licht an. Das Tier und der Mensch saßen sich gegenüber. Beide konnten einander im Dunkeln nicht sehen. „Singe!“ sprach der Herr. Im Raum blieb es ganz still.
Der Herr musste am nächsten Morgen früh aus dem Bett. Wegen der Nachtigall war er lange aufgeblieben. Er hatte sie singen hören wollen. Draußen graute der Morgen. Die Nachtigall saß auf dem Tisch. Neben ihr stand das Schälchen mit dem Wasser. Hinter dem Vogel stand eine Vase. In dieser welkten Gerbera. Der Herr sah zum offenen Fenster hinaus. Der Morgenstern leuchtete am Himmel. Die ersten Amseln schlugen an. Es roch nach frischer Erde. Es schmeckte nach Nacktheit.
Der Herr stand auf. Er holte Hammer und Nagel. Die Wand hinter dem Tisch war schmucklos. Der Herr schlug einen Nagel an ihr ein. Der Vogel rührte sich nicht. Er schien zu schlafen. Vielleicht war er auch krank.
Der Herr fasste nach dem Vogel. Er drückte ihm den Schnabel auf. Der Zungenring kam zum Vorschein. Der Herr band ihn an einen Schnürsenkel. An diesem hing er den fremden Gast am Nagel auf. Danach bereitete sich der Herr ein Frühstück. Er nahm es am Tisch ein. An der weißen Wand hing die Nachtigall. Die Morgensonne fiel auf ihr Gefieder. Das Tier flatterte. Es glich einem gefangenen Fisch. Es erinnerte auch an einen Erhängten. Der Schnürsenkel zitterte. Der rote Schwanz berührte die Tischplatte nicht. Der Herr trank Kaffee. Dazu aß er eine Buttersemmel. Aus dem Radio waren grauenhafte Nachrichten zu hören. Es folgte Kammermusik. Im dunklen Auge des Singvogels war ein gellender Glanz. „Schweige!“ sagte der Herr im Gehen.
Tagsüber hatte der Herr nicht an die Nachtigall gedacht. Im Abendblau kehrte er in die Wohnung zurück. Die braune Nachtigall hing immer noch an der weißen Wand. Unter dem grauen Nagel hing sie. Ihr Zungenring glänzte golden. Festgebunden baumelte sie am schwarzen Schnürsenkel. Der Herr hielt sie für leblos. Er schenkte ihr keine Beachtung. Der Dunst der toten Gerbera stieg zur Hängenden auf. Der Vogel lebte noch. Seine Zunge hing ihm aus dem Schnabel. Der Herr holte eine Zange. Mit dieser zwickte er den Zungenring durch. Vorsichtig umfasste er den Vogel. Behutsam setzte er ihn auf den Tisch. Der Herr fühlte Gefühle. An sich war er kein schlächter Mensch. Ein Schälchen Wasser stellte er dem Wesen hin. Die Nachtigall bekam auch ein Näpfchen gekochten Reis. Jedoch: Sie trank nicht. Sie fraß nicht. Sie saß nur so da. So schön wie am Vorabend sah sie nicht mehr aus.
Der Herr wusste: Die Nachtigall würde auch diesmal nicht singen. Sie sang auch nicht. Der Herr ging früh zu Bett. Die Fenster hatte er wieder offen gelassen. Vor Mitternacht schrien die Käuze in den Bäumen. Gegen drei Uhr früh zog ein Gewitter auf. Am Morgen gurrten die Tauben im Dachgebälk. Am Vormittag schlugen Tropfen auf das Fensterblech. Der Herr ging sich ein Glas Wasser holen. Es war Sonntag. Der Vogel war nicht mehr da.
Der Herr hatte Angeln gehen wollen. Es war kühl. Es war grau. Es regnete. Kurz entschlossen ging der Herr zu einer Frau. Er wollte vieles von ihr. Sie konnte ihm nichts davon geben. Sie erwarte einiges von ihm. Er verweigerte ihr alles. Die beiden verbrachten den Tag dennoch gemeinsam.
Am Abend klarte es auf. Der Einsame kam trübselig nach Hause. Aus seinem Fenster hörte er den Gesang einer Nachtigall. Freudig lief er die Treppe hoch. Er sperrte die Wohnungstür auf. Er konnte sein Herz springen fühlen. Ein Luftzug fuhr durch die Wohnung. Der Herr blickte zu Boden. Federn wehten ihm entgegen. Sie waren rötlich und braun. Etwas huschte aus dem Fenster. Auf dem Gesims flüchtete ein Schatten. Es raschelte im Efeu. Die Nachbarn hatten einen Kater. Die Nachtigall sang nicht mehr.
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